11. Juli 2012 - Abgründige Betrachtungen
Uli Matthias • 11. Juli 2023
11. Juli 2023 - Abgründige Betrachtungen

Eine Liste, sagt Ingrid. Sie führe eine Liste mit den Dingen, die sie noch einmal erleben wolle. Dinge, die sie vielleicht bei früheren Gelegenheiten versäumt habe. Warum sollte das Alter auch ein Grund sein, es nicht mehr zu versuchen? Man macht es doch schließlich sich selbst zuliebe.
Ach das Alter. Über 80 sei sie mittlerweile und werde auch nicht mehr jünger. Wozu also warten? Deshalb ist sie schließlich auch hier auf dem Weißekreuzplatz, bei der Schwarmkunst.
So viele verpasste Gelegenheiten. Wer kennt das nicht? Ein nicht eingeschlagener Berufsweg. Eine nicht gelebte Liebe. Die Musik, die man nie komponiert, das Buch, das man nie geschrieben hat. Wann, wenn nicht jetzt?
Aurora Venturini zum Beispiel. Die Argentinierin hat ihren schriftstellerischen Durchbruch mit einer Coming of Age Geschichte erzielt. Geschrieben hat sie diese Erzählung über das Erwachsenwerden ihrer Protagonistin Yuna im Alter von 85 Jahren. Und das Buch ist so prall aus dem Leben gegriffen, so gänzlich jenseits von jeder politcal correctness Sterilität, dass man jünger aus der Lektüre herauszugehen glaubt, als man in sie hineingegangen ist.
Ach die Jugend. Die Kinder hatten wieder ihren Spaß an diesem hochsommerlichen Dienstag, vor allem als die Wasser sprudeln durften. Eine halbe Stunde pro Schwarmkunsttag, immer von 18-18:30 Uhr (weitersagen!).
Diesmal kamen auch Mattes (3) und Carolin (7) vorbei. Sie haben ihre Eltern Melanie und Jan mitgebracht und im Iglu abgegeben. Anwohner seien sie, erzählten Letztere, sie hätten in der Zeitung von dem Projekt gelesen und seien neugierig gewesen. Vorher hätten sie ja nie einen Grund gehabt, auf den Platz zu gehen. Deshalb seien sie auch gespannt, wie es weitergeht, mit panta rhei, aber auch mit der Platzgestaltung. Auf jeden Fall sei es gut, wenn mal etwas Neues ausprobiert werde.
Vielleicht entsteht ja so ein Grund, auf den Platz zu kommen, auch wenn dem Weißekreuzplatz der Grund gerade abhanden zu kommen scheint.
Sarah und Melanie haben von den Fenstern ihrer Wohnung einen guten Blick auf den Platz und zur Zeit vor allem auf die Baustelle. Dort wurde jetzt erst einmal der Grund abgetragen. Ein bodenloser Anblick.
Aber es soll ja weitergehen und dafür ist es ja - siehe oben - eigentlich nie zu spät.
(Aurora Venturini: Die Cousinen. dtv. München 2022)


Einer geht immer noch. Auch nachdem unsere Workshop-Reihe am 10. März ihren vermeintlichen Abschluss gefunden hatte, stieg an diesem Wochenende noch ein Experiment der besonderen Art: Tanz im Bleistifthaus. Britta vom Osteroder Ballettstudio, das gerade sein 25-jähriges Bestehen feiert, war mit ihren Schülerinnen Fenja und Lisa nach Lerbach gekommen, um den Versuch zu wagen, tänzerisch Skulpturen in die Virtuelle Realität zu zaubern. Um es vorwegzunehmen: der Versuch gelang, wenn auch anders, als geplant. Entstanden war die Idee in einem der früheren Workshops, als eine Teilnehmerin spontan eine Yoga-Übung in der VR absolvierte. Was mit Yoga geht, klappt vielleicht auch mit Tanz, dachte Kerstin und lud das Ballettstudio Osterode ein, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Ein Vorschlag, der begeistert angenommen wurde. Vor dem Anpfiff erfolgte jedoch die Platzbegehung, Fußballer kennen das, das Geläuf wird auf Bespielbarkeit geprüft, dabei ist nicht nur der Einfluss auf die Performance entscheidend, sondern vor allem ein mögliches Verletzungsrisiko. „Ich bin vorher mit dem Headset in die VR gegangen“, sagt Britta, „und musste feststellen, dass wir das nicht riskieren können. Für einen Balletttanz ist der realphysische Raum schon sehr klein, aber der virtuelle bietet im Gegensatz dazu keine Orientierungspunkte für den Tanz. Darunter würde das Gleichgewicht leiden“.

In den vergangenen vier Monaten hat sich viel getan im Bleistifthaus von Lerbach. Mit Hilfe der verschiedenen Workshops konnte nicht nur die professionelle Verzahnung von virtueller und physischer Welt an diesem Ort perfektioniert werden, auch die lokale und regionale Vernetzung machte deutliche Fortschritte. Aus einem der Workshops ging sogar mit „Lerbach leuchtet“ ein weiteres Schwarmkunstprojekt hervor, das sich an Penvolution Realität+ anlehnen möchte. Mehr dazu hoffentlich bald auf dieser Seite. Es entwickelt sich also einiges im Bleistifthaus und in Lerbach, auch mit freundlicher Unterstützung von LEADER, der europäischen Initiative zur Entwicklung des ländlichen Raumes. Und weil es immer wieder aufschlussreich ist, wenn diejenigen, die über eine Förderung entscheiden, sich einmal anschauen, was vor Ort mit dem Geld auf die Beine gestellt wird, kamen zum Abschluss der Workshop-Reihe Mitglieder des LEADER-Regionalmanagements und der Lokalen [LEADER] Aktionsgruppe (LAG) Osterode am Harz ins Bleistifthaus.

Eine Schulstunde etwas anderer Art: an diesem Mittwoch verlegte die 11. Klasse des altehrwürdigen Tilman-Riemenschneider-Gymnasiums in Osterode ihren Kunstunterricht kurzerhand nach Lerbach ins Bleistifthaus. Hier übten sich die Schüler und Schülerinnen begeistert in zweifacher Hinsicht in bildender Kunst: traditionell handwerklich in der Bearbeitung und Verbauung von haptisch erfahrbaren Bleistiften und per Controller in der Konstruktion „raumgreifender“ virtueller Objekte. Diese doppelte Erfahrung machen zu können, fanden eigentlich alle „interessant“ bis „cool“ und Markus, Raja, Valeria und Jara konnten beiden Formen gleichviel abgewinnen. Insbesondere das virtuelle Bauen wurde von Manu, Linus, Malte, Mika und Willy geschätzt, während Jana, Hanne, Bineh und Lia das Handwerkliche präferierten. Auch Isabell hatte ihren Spaß am manuellen Bauen, fand jedoch das Bohren und Sägen deutlich anstrengender, als das lockere Platzieren virtueller Bleistifte. Nicht zuletzt die Arbeit in der Gruppe wurden von mehreren Schülern und Schülerinnen hervorgehoben. Gemeinsam an so einem Projekt arbeiten zu können, sei cool gewesen, meinte Jara. Zudem trafen die Elftklässler beim Bleistifthaus auch auf die Vorarbeiten der Künstlerin Kerstin Schulz und zahlreicher Schwarmkünstler, die bei diversen Sessions ihren Beitrag zum Werk geleistet hatten. Eine kollektive Kunstform wie die Schwarmkunst lenkt die Kreativität der Einzelnen notwendigerweise in bestimmte Bahnen (Bineh), schafft aber auch für viele überhaupt erst den Raum, um Kunst zu produzieren. Für Lia war es eine aufregende Erfahrung, hier auf den Vorarbeiten anderer aufbauen zu können und nicht erst bei Null anfangen zu müssen: „Dadurch kommt man auch auf ganz neue Ideen“. Einfach bleistifthaft eben.

Der Workshop an diesem Wochenende stand ganz im Zeichen der Nachbarschaft. Osterode, Ortsteil Lerbach: hier kennt man sich, mehr oder weniger, die Nachbarschaft ist ein überschaubarer Raum mit klaren, eher engen Grenzen, in dem man sich selbst verorten und damit eine verlässliche Basis schaffen kann, auch für die Erkundung scheinbar grenzenloser Welten.

Penvolution-Realität+ weckt offenbar bei vielen Teilnehmenden den kreativen Ehrgeiz, das hat auch der Workshop an diesem Wochenende wieder gezeigt. Sowohl die Arbeit mit den physisch-realen Bleistiften, als auch mit ihren digital-realen Gegenstücken animierte zu ambitionierten Entwürfen und neuen Ideen. Eine Reaktion, natürlich ganz im Sinne der Schwarmkunst, die ja in jedem Menschen kreative Potenziale sieht und einen niedrigschwelligen Zugang zu ihren Angeboten bieten und diese zur Entfaltung bringen möchte. Begabungen und Fähigkeiten zu entdecken und zu fördern, haben sich auch die Harz-Weser-Werke (HWW) zum Ziel gesetzt (wenn auch mehr mit Blick auf Arbeit und Qualifizierung). An diesem Wochenende trafen die verwandten Ansätze nun aufeinander, als sich eine kleine Delegation der HWW in Lerbach einfand. „Sehr interessant und spannend“ fand Felix, Heilerziehungspfleger bei den HWW, das „Crossover von digitaler und analoger Bauweise“. Er hatte nicht zum ersten Mal eine VR-Brille aufgesetzt und brauchte daher nicht viel Anlaufzeit, um digitale Häuser zu zimmern und Figuren zusammenzustellen.

Wie wird unser erster Kontakt mit einer außerirdischen Zivilisation verlaufen? Viele Dichter und Denker haben sich mit dieser Frage beschäftigt und dabei vor allem Aufschlussreiches über uns selbst herausgefunden. Würden wir in der Lage sein, die wahren Intentionen von Außerirdischen zu erkennen, die womöglich nach komplett anderen Maßstäben kommunizieren, eine ganz andere Lebensform darstellen und über eine gänzlich andersartige Umwelt verfügen? Und wären wir so mutig, uns dieser Herausforderung zu stellen oder würde uns diese fremde Realität so verunsichern, dass wir jeden Kontakt verweigern?

Wo liegen die Grenzen des Virtuellen? Und was geschieht, wenn wir diese Grenzen erreichen, womöglich gar überschreiten? Nun, vielleicht ist diese Grenzüberschreitung innerhalb der virtuellen Realität genauso wenig möglich, wie in unserer physischen Welt, aber der Versuch könnte schon zu Grenzerfahrungen führen, wie Lars feststellen musste: „Ich fühlte mich doch immer wieder eingeengt, weil ich ständig an Gitterstäbe stieß“. Ein Phänomen, das allerdings nur auftrat, wenn man sich vor allem realphysisch im virtuellen Raum bewegte und Lars war bei seinem virtuellen Ausflug physisch sehr mobil unterwegs. Das klaustrophobische Gefühl kehrte sich denn auch schließlich geradezu um, wenn er sich innerhalb der VR per virtueller Teleportation fortbewegte. „Bei meiner Rückkehr aus der virtuellen Welt hatte ich das Gefühl, in einen kleineren Raum zu gelangen, vorher war da eine viel größere Fläche“, berichtet Lars.