Eine Liste, sagt Ingrid. Sie führe eine Liste mit den Dingen, die sie noch einmal erleben wolle. Dinge, die sie vielleicht bei früheren Gelegenheiten versäumt habe. Warum sollte das Alter auch ein Grund sein, es nicht mehr zu versuchen? Man macht es doch schließlich sich selbst zuliebe.
Ach das Alter. Über 80 sei sie mittlerweile und werde auch nicht mehr jünger. Wozu also warten? Deshalb ist sie schließlich auch hier auf dem Weißekreuzplatz, bei der Schwarmkunst.
So viele verpasste Gelegenheiten. Wer kennt das nicht? Ein nicht eingeschlagener Berufsweg. Eine nicht gelebte Liebe. Die Musik, die man nie komponiert, das Buch, das man nie geschrieben hat. Wann, wenn nicht jetzt?
Aurora Venturini zum Beispiel. Die Argentinierin hat ihren schriftstellerischen Durchbruch mit einer Coming of Age Geschichte erzielt. Geschrieben hat sie diese Erzählung über das Erwachsenwerden ihrer Protagonistin Yuna im Alter von 85 Jahren. Und das Buch ist so prall aus dem Leben gegriffen, so gänzlich jenseits von jeder politcal correctness Sterilität, dass man jünger aus der Lektüre herauszugehen glaubt, als man in sie hineingegangen ist.
Ach die Jugend. Die Kinder hatten wieder ihren Spaß an diesem hochsommerlichen Dienstag, vor allem als die Wasser sprudeln durften. Eine halbe Stunde pro Schwarmkunsttag, immer von 18-18:30 Uhr (weitersagen!).
Diesmal kamen auch Mattes (3) und Carolin (7) vorbei. Sie haben ihre Eltern Melanie und Jan mitgebracht und im Iglu abgegeben. Anwohner seien sie, erzählten Letztere, sie hätten in der Zeitung von dem Projekt gelesen und seien neugierig gewesen. Vorher hätten sie ja nie einen Grund gehabt, auf den Platz zu gehen. Deshalb seien sie auch gespannt, wie es weitergeht, mit panta rhei, aber auch mit der Platzgestaltung. Auf jeden Fall sei es gut, wenn mal etwas Neues ausprobiert werde.
Vielleicht entsteht ja so ein Grund, auf den Platz zu kommen, auch wenn dem Weißekreuzplatz der Grund gerade abhanden zu kommen scheint.
Sarah und Melanie haben von den Fenstern ihrer Wohnung einen guten Blick auf den Platz und zur Zeit vor allem auf die Baustelle. Dort wurde jetzt erst einmal der Grund abgetragen. Ein bodenloser Anblick.
Aber es soll ja weitergehen und dafür ist es ja - siehe oben - eigentlich nie zu spät.
(Aurora Venturini: Die Cousinen. dtv. München 2022)